Über den Tellerrand meint, die Welt über die Gemeindegrenzen Thalwils und all seinen Geschichten hinweg zu erfahren!
In diesem Bereich werden zwar Unterdemteppich – Geschichten erzählt, die den spezifischen Örtlichkeiten Thalwils aber nicht genaue zu geordnet werden können oder persönliche Aspekte beleuchten.
Das Alter ist eine Zeitmaschine
Helmi Sigg wohnt schon seit fast dreissig Jahren nicht mehr in Thalwil, sondern im „weit“ entfernten Oberrieden. Trotzdem behauptet er, dass seine Jugend in unserer Gemeinde die wohl prägendste Zeit in seinem Leben gewesen sei.
Text: Helmi Sigg, Oberrieden
Bild: Barbara Sigg
Über Wurzeln und Vergangenes
Wie der Titel schon sagt, das Alter ist eine Zeitmaschine. Leider nur in eine Richtung. So betrachtet, bin ich in meiner Zukunft angekommen. Ob ich sie mir auch so vorgestellt habe? Ich weiss es nicht. Was ich hingegen weiss ist, mit zunehmendem Alter werden Wurzeln und vergangene Zeiten, Orte, Plätze und Menschen wieder wichtig. Es gab Zeitspannen, da interessierte mich das überhaupt nicht. Wenn man aber beinahe den Abspann des Lebensfilms erreicht hat, melden sich unaufgefordert Erinnerungen.
Einprägsames gab es stets. Vor allem Menschen, die hin und wieder auftauchen. Natürlich ist es manchmal schwierig, sich genau an gewisse Dinge genau zu erinnern. So mögen Sie mir verzeihen, wenn ich mich nicht immer exakt an facts and figures halte. Manchmal vermischt sich Fantasie und Tatsache. Aber vielleicht regt es ja ihre eigene Fantasie an, oder sie erinnern sich ebenfalls an dies und jenes, dass sie vielleicht schon lange vergessen haben. Also, lassen sie mich erzählen, auch wenn sie es viel besser gewusst hätten.
Text: Helmi Sigg, Oberrieden
Egolf, der Taumler
Alle nannten ihn nur nach seinem Nachnamen: Egolf und er war ein Verwandter unserer Nachbarn. Damals wohnten wir an der Berghaldenstrasse #10. Anfangs der 60er war sie noch nicht durchgehend und durch eine grosse Wiese unterbrochen. Man kam von der Dorfstrasse her und unser Haus auf der rechten Seite war das letzte. Bald kamen Bagger und es gab riesige fantastische Erd-hügel, zum Leidwesen unserer Mütter. Heute geht dort die Zürcherstrasse durch. Ein kleiner Weg führte zur Feldstrasse dann ging es links die Schwandelstrasse hinunter. Beim Konsum mit angebauter Metzgerei (heute Piano Schoekle) überquerte man die Bergstrasse, hinunter bis zur Gotthardstrasse. Genau in dieser Ecke war das Paradiesli. Eine kleine Beiz, zu der ein paar Stufen hinunter führten, mit Grünzeug gegen die Strasse abgeschirmt. Dort sah man in viel, den Egolf, dessen Vornamen Albert aber niemand benützte. Er war einfach nur der Egolf. Ein lustiger Name. Für uns Kinder auch ein lustiger Mann. An sein Gesicht kann ich mich noch ungefähr erinnern. Irgendwie wirkte es zerknautscht. Wahrscheinlich weil er fast keine Zähne mehr hatte. Und an seine Nase. Auch sie passte sich in die Gesichtslandschaft ein wie ein Stück weicher Gummi. Mit der Zeit würde ihm ein Krebsgeschwür fast eine Hälfte wegfressen. Manchmal hatte er ein Pflaster darüber, manchmal nicht. Heute würde man sagen, der Mann hatte eine oder mehrere Behinde-rungen, damals war er einfach einer, der nicht alles beieinanderhatte, in seinem Oberstübli, oder eben, ein Original. Und das war er wirklich. Seine Sprache war unverständlich. Dies war schon seit seiner Geburt so. Die Laute die er ausstiess hatten nichts mit unserer Sprache zu tun. Am ehesten konnten man an der Tonalität erahnen was er wollte. Viele Menschen schien das abzustossen und sie hatten Angst vor ihm. Wenn man ihn ärgerte oder foppte, dann waren seine Laute furchterregend. Dazu kam sein Gang, ein Taumeln das fast die ganze Breite des Trottoirs ausfüllte. Stets steckte ein Stumpen in seinem Mund und... jetzt kommt das Beste: Egolf war immer gut drauf. Wenn man ihn ansprach, erreichten seine Mundwinkel die Ohren, über denen ein fleckiges Béret thronte. Als Knirps erschien er mir als märchenhaftes Wesen. Ein Troll oder ein Gnom. Und im Gegensatz zu anderen Erwachsenen, flösste er mir nie Angst ein. Kaum erkannte ich ihn an seinem seltsamen Gang, rannte ich auf ihn zu, um ihn wahrscheinlich zu grüssen und irgend-etwas zu sagen, oder ihn einfach nuscheln zu hören. Egolf hatte immer Zeit und freute sich wahrscheinlich auch, mit einem so unvorein-genommenen Knirps zu reden, der in ihm einfach nur sah was er war, ein wunderbarer Mensch.
Text: Helmi Sigg, Oberrieden
Fernand Rutters Negertaxi
Heute wäre das undenkbar, ein Aufschrei würde durch die Medien rasen, Anwälte würden bemüht, Politiker würden sich profilieren, ein Shitstorm würde die Social Media erschüttern,
die Schweiz würde Kopf stehen und der Europäische Gerichtshof würde tagen.
Damals war es einfach eine grossartige Marketing-Idee. Dort wo heute der Gnusspur-Laden ist, lag neben dem Trottoir früher der Taxistand von Herrn Fernand Rutter. Er war schwarz. Der political correctness wegen, würde man ihn heute Afroschweizer nennen. In den sechziger- und siebziger Jahren ging man noch lockerer mit Bezeichnungen um. Auch Fernand Rutter selber. Nannte er doch sein Unternehmen offiziell Negertaxi und als Logo setzte er noch ein schwarzes Püppchen auf die gelbe Taxi-Leuchte über dem Autodach. Fernand sah ein wenig aus wie Louis Armstrong, hatte wie Satchmo eine volle Stimme und meistens einen coolen Hut auf. Auch seine Frau Ida, die Haare zu einem Dutt gebunden fuhr das Taxi. Aber, ich hoffe sie verzeiht mir, ihr Mann war der Taxistar von Thalwil. Ich habe von der grandiosen Marketing-Idee geschrieben. Ich glaube alle Kinder, die mit ihren Eltern unterwegs waren und ein Taxi benötigten, wollten doch mit dem N....taxi und Herrn Rutter in seinem dunkelblauen Amischlitten herumkutschiert werden.
PS. Fernand Sidonie Rutter starb am 13. April 2016, er wurde beinahe 90 Jahre alt.
Erlenbacher Geissehänker und Thalwiler Halbfüdeler
Obwohl der Zurichsee zwischen den Dörfern liegt, geht es nicht ohne Fopperei!
Text: Heinz Kriesi, Thalwil
Bild: Urs Amstutz
Meine Kindheit und Jugendzeit verbrachte ich in Erlenbach. Wenn wir Jugendliche am See angeln gingen so zeigten unsere Angelruten Richtung Thalwil. Doch, was da drüben war, interessierte nicht – die Ufer mit riesigen, grauen Fabriken rauchenden Fabrikschloten überstellt und nachmittags das Thalwiler Ufer bereits im Schatten lag.
Das einzige, was über das graue Ufer erzählt wurde, war, dass es die Erlenbacher waren, welche den Thalwiler Kirchenbrand 1941 als erste entdeckten und die Feuerwehr in Thalwil aufbieten mussten. Sonst wie gesagt interessierte die Goldküstler ihr Vis-a-vis herzlich wenig und doch gab es noch eine Ausnahme.
So hatte doch jedes Dorf seine eigenen Geschichten, welche für Spott und Hohn herhalten mussten. Die Erlenbacher wurden ‚Geissehänker’ genannt und das kam so:
An der Bahnlinie am rechten Seeufer gab es damals noch Barrieren, welche von einem Barrierenwächter von Hand bedient wurden. Nach des Wärters ermessen wurde die Barriere geöffnet oder geschlossen – oft weit vor oder nach der Zugsdurchfahrt – zum Ärger der Benutzer – Sie unterschoben ihm, dass er sie schikanieren wollte und sannen nach Rache – wieder war die Barriere geschlossen und weit und breit keine Eisenbahn noch zu sehen, noch zu hören. So banden die Erlenbacher ihre mitgebrachten Ziegen mit den Stricken an der Barriere fest und kehrten in der Wirtschaft Erle neben dem Bahnübergang ein, hatten es lustig und warteten den Zug ab. Nach dessen Durchfahrt blieben sie aber bei ihrem sauren Most sitzen und freuten sich, dass der Barrierenwärter der Ziegen wegen seinen Dienst nicht versehen konnte und die Barriere geschlosen halten musste.
Die Rechnung ohne den Wirt machen heisst es doch so schön!
Genau das passierte den Beizenhockern mit ihren Ziegen – diesen Spass verdarb ihnen ihr vermeintliches Opfer gewaltig – unter Aufbietung sämtlicher seiner Kräfte trieb er die Kurbel der Barriere unter der schweren Last der Ziegen hoch und unbemerkt von den Säufern.
Nachdem die angeheiterten Erlenbacher fanden, sie hätten den Wärter nun endlich genug geärgert und die Beiz verliessen, um ihre Ziegen los zu binden, hingen diese an ihren Stricken erhängt hoch oben an der geöffneten Barriere.
So wurden die Erlenbacher zum Gespött als ‚Geissehänker’!
Inzwischen betrachte ich mich längst als Thalwiler und fühle mich hier zuhause und komme mit der Geschichte nun endlich zu den Thalwilern.
Damals waren die Turnvereine, die wohl wichtigste Institution in den Seegemeinden. Einmal im Jahr fanden die regionalen Turnfeste statt – gefestet wurde am Schluss jeweils auch - aber davor ging es bei den Wettkämpfen in den verschiedensten Disziplinen sehr ehrgeizig zu; denn ging es doch um die Ehre des Dorfes und um die Siegerkränze aus Lorbeer!
Da lagen sich auch die Thalwiler und die Erlenbacher in den Haaren – nicht nur auf der Aschenbahn und den Geräten auch verbal wurde gefeitet. Die Erlenbacher foppten die Thalwiler und nannten sie respektlos die ‚Halbfüdeler’.
Daran erinnerte ich mich erst wieder als ich 1974 nach Thalwil zog und wissen wollte, woher dieser Spottname kam. Niemand konnte oder wollte mir Auskunft geben.
Damals in den grauen endlosen Fabrikbauten entlang dem Seeufer arbeiteten hunderte von Thalwilern. Neben etwas Landwirtschaft und Gewerbe waren diese Fabriken die Hauptarbeitgeber – und die Arbeiter abhängig von diesem schlecht bezahlten Erwerb und unter schweren Bedingungen.
Sie arbeiteten im Wochenlohn – am Freitag war Zahltag – traditionell nach Arbeitsschluss zogen sie ins Restaurant Höfli, ihre Stammbeiz. Dort ging es dann hoch zu und her. Nur – und das wussten sie sehr genau - wurden sie scharf beobachtet. Ihr Patron schickte Spione aus, um zu erkunden, welche Arbeiter sich da aufspielten und wieviel getrunken wurde.
Wenn es sich die Arbeiter leisten konnten ihren Lohn in die Wirtschaft zu tragen, so verdienten diese zu viel – war die herrschende Meinung ihrer Chefs.
Davon wussten die Proletarier! Um den Spionen zu entkommen postierten sie ihrerseits Beobachter. Diese die Arbeiter fühlten sich bei ihren lauten Zechereien doch verunsichert. Sie wussten nur zu gut von ihren Abhängigkeiten in der Fabrik.
Also sassen sie nie ruhig auf ihren wackligen Stühlen, waren in jedem Moment fluchtbereit und hockten also den Umständen entsprechend nur auf einem ‚Füdlibacken’.
Mit dem Alarm, dass der Auskundschafter sich dem Vordereingang der Beiz nähere, flüchteten die Feierabendgäste durch den hinteren Ausgang und möglichst unbemerkt.
So soll es dazu gekommen sein, dass die Thalwiler zu den ‚Halbfüdlern’ wurden und sich diese Geschichte bis ans gegenüberliegende Seeufer und noch viel weiter herumgesprochen und für Spott und Hohn gesorgt hat. Doch die Thalwiler sind nicht alleine, denn solche Spottereien erzählte sich die Dorfgemeinschaften über andere Dörfer auch.
Rebellion
Gibt es heute noch echte Rebellen? Manchmal findet man sie unverhofft mitten unter uns.
Text: Susann Klossek
aus dem Buch ‚Pferde wetten nicht auf Menschen–Roadpoem’ Mehr: LINK
Bild: Susann Klossek
‚Was ist heute schon Rebellion?’ war die Frage, die ich mir kürzlich stellte. Ein Pferd, das längst durchgegangen ist, den Reiter abgeworfen und sich vergallopiert hat. Wir haben uns selbst enteignet, vor allem so im Kopf. Wir spazieren an der Peripherie unseres Verstandes und drohen jeden Moment in den Abgrund zu kippen. Jetzt bloß nicht aufmucken und die Märkte stören, die woll'n doch nur spielen. In diesem Sinne ein säkularisiertes Amen und Prost! Und dann in der Straßenbahn später saß ein Mann und zog ein Gesicht, das perfekt zu meiner Laune passte. Nach einer Weile kramte er ein kleines Gerät aus seiner Jackentasche das aussah wie 'ne Minifernbedienung. Und ich dachte mir, was der jetzt wohl fehlleitet, in die Luft jagt oder ob der von der Bahn aus vielleicht sein Auto verriegelt? Und dann hat er sein Hörgerät abgeschaltet. Einfach so.
Gute Vorsätze
Jeden Tag steht einer auf und will etwas tun. Meistens passiert dann aber doch nichts.
Text: Susann Klossek
aus dem Buch ‚Fatum’
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Bild: Susann Klossek
Manchmal hievt man sich morgens aus dem Bett und weiss genau, dass man etwas tun muss. Etwas Wichtiges, dringend, das keinen Aufschub duldet. Du spürst es in den Eingeweiden, doch kannst mit der Erkenntnis nichts anfangen. Und während du mit einem Gefühl innerer Aufmüpfigkeit absurde Pläne schmiedest, befindest du dich schon auf demselben ausgelatschten Pfad wie jeden Tag. Wir fressen Staub und kratzen uns am Kopf wie ahnungslose Idioten. Selbst Ekel zu empfinden ist furchtbar anstrengend. Hilflos verrichtet man seine Tätigkeiten, ohne Scham, das ist vorbei. Und in einem unbedachten Moment wird man plötzlich alt. Am Abend öffnest du dein erstes Bier, während sie Bilder von ertrunkenen Flüchtlingen zeigen. Ein schwacher Trost nicht einer von denen zu sein. Man sollte etwas tun, denkst du noch, bevor du dich auf die Seite rollst und hoffst, dass sich am nächsten Tag nicht Gleiches wiederholt.
Wenn alle Masken fallen
In Varanasi treffen sich Sinnsucher, Tantrajünger und gescheiterte Existenzen mit Gurus von zweifelhafter Natur.
Text: Susann Klossek,
aus dem Buch ‚Varanasi – Endstation Ganges’
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Bild: Susann Klossek
Im Openhand Café im indischen Varanasi begegnet man allerlei skurrilen Gestalten. An einem Dienstag geriet ich an den Tisch von Saranam, Bolko und Suryia. Sie haben ihre bürgerlichen Namen abgelegt und praktizieren in North Dakota und Stockholm als Tantra- Lehrer das rote Tantra.Das rote sei das erotischste aller Tantra-Richtungen, bei dem es am Ende zwischen Shakti und Shiva zur sexuellen Vereinigung kommt, erklärte Saranam, liess dabei seine Hakennase zittern und wedelte mir mit seinen schwarz gefärbten, schütteren Locken vorm Gesicht herum.
Die drei sind hier an einem Workshop bei irgendeinem indischen Tantra-Meister zugange, um ihren Horizont zu erweitern und ihre Schüler künftig noch inniger zu beglücken. Yoga – ja. Meditation – ja. Tantra – von mir aus. Kopulation mit dem Meister – nein.
Suryia hat schönes, haselnussbraunes langes Haar und ein hübsches Babyface mit einem bezaubernden Lächeln.
«Beim Tantra fallen alle Masken», sagte sie, «wir begegnen uns auf göttlicher Ebene.»
Da kann ich für sie nur hoffen, dass Saranam und Bolko unter ihren Masken besser aussehen. Sie sind wirklich hässlich und ich könnte gar nicht so sehr in Trance geraten, um diese Gesichter auszublenden. Ich bin aufgeschlossen gegenüber Tantra und halte viel von körperlicher Ekstase auf höherer Bewusst-seinsebene. Die Leute stören halt einfach dabei. Bolko bleckte verzückt sein Pferdegebiss und balzte Suryia unverblümt an.
«Komm doch auch», sagte Suryia und zum ersten Mal war ich froh darüber, direkt am Fluss zu wohnen.
«Ich darf nicht», sagte ich, «ich wohne am Assi Ghat. Sex ist da strengstens untersagt. Ich befinde mich quasi in einem Entsagungs-Retreat.»
«Ohhhh», sagte sie, «das tut mir aber leid», und ich war drauf und dran, dieses Bedauern auch für sie auszudrücken. Doch dann dachte ich mir, wenn sie freiwillig mit Pferd und Zwergnase vögeln will, wer bin ich, sie davon abzuhalten?
Arbeitslosenode
Gedanken einer Arbeitslosen während ihrer Wartezeit
Text: Susann Klossek
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Bild: Susann Klossek
Morgens stehe ich auf, was mir nicht mal sonderlich schwerfällt. Obwohl ich im Grunde liegenbleiben könnte, denn ich habe nichts zu tun. Ich habe keinen Job, was mich aufregen, deprimieren oder in Panik versetzen sollte. Aber es ist mir egal, im Gegenteil: Ich bin froh, aus allem raus zu sein. Ab und an schreibe ich IT-Artikel oder Rezensionen zu Büchern, die ich freiwillig nie lesen würde. Nicht, weil’s mich interessiert, sondern weil ich’s kann. Ich warte auf meine Tage, die überfällig sind. Wechseljahre - dämlicher Begriff. Ich wechsle nichts. Weder Geld noch die Wäsche und auch nicht meine Identität. Allenfalls die Hautfarbe, wäre ich Michael Jackson. Im Vergleich zu dem geht’s mir blendend. Manchmal formuliere ich im Kopf ein Gedicht, aber bis ich mich aufraffe, es aufzuschreiben, ist's mir meistens entfallen. Ich müsste an meinem aktuellen Buch schreiben, aber wenn das nicht rauskommt, kräht auch kein Hahn danach. Um 5 nach 3 gucke ich Bares für Rares - für gewöhnlich der Höhepunkt des Tages. Unfassbar, was die Leute alles in ihren Kellern und Schränken horten. Das Meiste würde ich nie kaufen. Aber vieles bringt gutes Geld ein und die Händler sind Gentleman alter Schule: Sie begrüßen die Frauen mit gnädige Frau und verabschieden sie mit auf Wiedersehen die Dame, simple Anstandsformeln, die ich vermisse. Ich überlege, was ich veräussern könnte und was Kunst und Krempel aus aller Herren Länder so wert wären. Aber ich kann mich von nichts trennen und müsste für die Sendung nach Köln fahren, also lass ich's bleiben. Auch wenn dort mein erster Freund lebt und ich mir denke, dass es schön wäre, ihn mal wiederzutreffen. Aber er hat eine Frau und keine Haare mehr, also kann ich mir das auch sparen. Gegen halb 5 mache ich einen späten Nachmittagsschlaf. Ich bin immer müde, das liegt wohl an der Lungenentzündung, die ich mir in Guatemala zuzog. Vielleicht bin ich aber auch nur einfach so träge, weil ich alt werde oder endlich mal Zeit habe und dreißig Jahre Schlafmangel kompensieren muss. Morgen muss ich aufs RAV - wenn man das laut ausspricht, klingt das wie eine Terrorgruppe aus den 70-ern. Und irgendwie trifft das auch zu. Ich mag keinen sehen und nirgendwo hingehn oder Rechenschaft ablegen. Alle zwei Tage kaufe ich Lebensmittel ein, damit ich mal rauskomme oder nicht verhungere. Obwohl Letzteres vermutlich Monate dauern würde. Ich gieße regelmäßig die Pflanzen und wasche mir die Haare. Manchmal rasiere ich mich auch, obwohl nicht davon auszugehen ist, dass sich ein Beischläfer bei mir verirrt. Im Internet könnte ich nach einem Partner suchen oder einem schnellen Fick - beides entspricht aber nicht wirklich meinen Bedürfnissen. Ich gucke dann doch lieber einen Porno, den kann man jederzeit abschalten und reden muss man mit dem auch nicht, da weiß man, was man hat.
Jetzt habe ich Gefragt - Gejagt verpasst und Wer weiß denn sowas? ist auch schon fast rum. Da kann man echt was lernen, um dann alles wieder zu vergessen. Ich halte mich zwischen Tagesschau, Two and a half men und Medical Detectives nur schwer wach, aber die Hintergrundberieselung gefällt mir. Es ist fast so, als wäre man nicht alleine. Es erfüllt mich mit Freude und Erleichterung, dass ich morgen nicht uns Büro muss. Die Kasse zahlt, wenn auch nicht Ewigkeiten. Nicht zu müssen, ist ein bisschen langweilig aber ungemein befreiend. Für die Jobs, für die ich mich bewerbe, passe ich immer knapp nicht ins Profil. Obwohl ich die Qualifikationsanforderungen - neudeutsch: Skills - mehr als erfülle. Ich vermute, das liegt am Alter. Wenn sie einen in der Anzeige schon mit Du ansprechen
ein Du, dass unter 35 und Teil eines urbanen Lebensgefühls ist, könnte man sich die Mühe im Grunde sparen. Und mit Journalismus gegen Wasserstoffbomben von Kim Jong-un ankämpfen, ist eh ein bisschen lächerlich. Ich frage mich, ob die Human-Ressource-Schlampen wissen, was sie da anrichten. Egal - bei jeder Absage atme ich erleichtert auf. Vielleicht werde ich Influencer, einer jener Nichtsnutze der Gesellschaft, die Einfluss auf nichts und niemanden haben, einem aber pausenlos auf die Eier gehen und sich über die Anzahl ihrer Vollid…Follower definieren. Es soll ja Leute geben, die meinen, das sei ein Beruf.
Wegen der political correctness nennt man Unsereinen heute Arbeitssuchende. Dabei suche ich gar nicht oder nur in den seltensten Fällen. Seit ich nicht mehr rumstressen muss, bin ich tiefenentspannt und habe auch keine Probleme mit dem Stuhlgang. Ich öffne meine Agenda und die ist fast leer. Ist das etwa das Glück, von dem immer alle reden, das dir aber kaum jemand erklären kann? In der Migros haben sie Ovomaltine-Proben verteilt, aber es ist eine Lüge, dass man damit länger kann. Ich bin schlapp wie immer und das erste Mal im Leben tue ich nichts gegen diesen Zustand. Das Recht auf Schlappheit sollte in der Verfassung verankert sein. Ich simuliere ein bisschen das Leben. Wie Tänzer kurz vor der Premiere, um ihre Kräfte zu sparen und sich nicht für eine Hauptprobe ohne Zuschauer zu verausgaben. Der Winter ist komplett an mir vorbeigegangen und schon wird es Zeit, sich auf die Frühjahrsmüdigkeit vorzubereiten. Das Einzige, worauf ich warte, ist die neue Staffel von House of Cards.